sucked orange
Kein anderer Ort riecht wie New York.
Und keiner fühlt sich so an. Ralph Waldo Emerson sagte dazu treffend: "New York is like a sucked orange".
Wenn wir von New York reden, dann meinen wir meistens New York City. Also die Stadt, nicht den Staat. Und noch genauer gesagt Manhattan. Das ist "das New York", dass jeder kennt. Aufregend, glänzend, schillernd. Sex and the City und Lifestyle. Mode, Luxus und Geld. Opulenz, Romantik und unbegrenzte Möglichkeiten. Reichtum und neue Chancen.
So habe ich die Stadt nie wahr genommen.
Ich erinnere mich kaum an den ersten Besuch, er war überwiegend überwältigend und ich noch viel zu jung, um alles zu verstehen und verarbeiten. Doch schon damals hat es mich unruhig gestimmt, die vollen Straßen, die lange Fahrt vom Flughafen in die Stadt, die Dunkelheit bei gleißender Sommersonne. Der Schatten, der die Straßen bedeckt, weil kein Sonnenstrahl den weiten Weg zum schmutzigen Asphalt schafft.
An die Besuche danach erinnere ich mich besser. Heute ist New York für mich vor allem laut, heiß und stickig - zumeist bin ich im Sommer dort. Erdrückend fühlt es sich an auf dem erhitzten Grau. Überall sind Baustellen, bepackte Straßen wechseln sich mit schmalen, leeren Gehwegen ab. Heißer Dampf schießt aus Rohren im Boden, Stahl und Beton sperren die Hitze ein, die Luft ist dick. Alles steht und ist doch unruhig. Alles bewegt sich und kommt doch nicht vorwärts. Die Menschen eilen vorbei und doch fühlt es sich an, als bewege sich alles in Zeitlupe.
New York stresst mich. So viele Menschen, so viele Geschichten und keine Chance, sie zu hören. In keiner anderen Stadt hatte ich je das Gefühl, von einer solchen Bandbreite an Schicksalen und derart leeren Augen umgeben zu sein. Jeder trägt ein Paket und die einzelnen Menschen blenden sich ins Stadtbild ein und verschwinden zwischen den Häuserkluften wie die Ratten in den Abflüssen. Wir alle wissen, sie sind da, doch wer kann, übersieht sie, viele nehmen sie gar nicht mehr wahr. Nur, wer bereit ist, inne zu halten und genau hin zu schauen, kann erahnen, wie viele es sind. Der einzige Glitzer, den ich finden kann, sind Überreste der vorabendlichen Broadwayshow, längst abgeblättert und auf dem Gehweg platt getrampelt. Darunter Dreck.
Jede Stadt hat ihren eigenen Geruch. So riecht Mannheim, die Stadt in der ich lebe, nach Marihuana, Kot und Schokolade. New York hingegen riecht nach Obszönität und Urin. Nach Baustellenschweiß und Champagner. Nach heißem Asphalt, tropfenden Klimaanlagen und Kunst. Nach hoffnungsloser Romantik und schwarzem Abgrund.
Das einzige, was Mannheim und Manhattan eint, ist das Schachbrettmuster.
In New York weiß man nie, was an der nächsten Ecke wartet. Die Eindrücke sind so vielfältig, so dekadent gegensätzlich. Dennoch, mit geschlossenen Augen fühlt sich die ganze Stadt für mich gleich an. Alles ist schnell, hektisch, die Reize überflutend. Ich frage mich, wie sich irgendjemand hier je für eine Restaurant entscheiden kann. Und wenn es doch gelingt, besteht die Chance, dass dort beim Eintreffen schon längst ein neuer Laden eröffnet hat. Existenzen ploppen am Straßenrand auf, genauso schnell wie sie wieder verschwinden. Die Insidertipps muss man kennen. Weil man jemanden kennt, der was weiß. Die jemanden kennt. Überall verstecken sich Abenteuer, Clubs, Galerien an den seltsamsten Ecken. Die Stadt atmet, aber gesund ist sie nicht. Eben noch stand ich unter einer alten Eisenbahnbrücke, zwischen Mülltüten und einem Krankenwagen. Nun schaue ich vom obersten Stockwerk eines gläsernen Wolkenkratzers hinab, überblicke alles, sehe das Empire State Building leuchten und die roségoldene Reflektion der Abendsonne in den glitzernden Fenstern der Stadt. Die Lichter gehen an, nun schillert sie also.
Um mich herum tummeln sich betuchte Menschen und zelebrieren das Leben und den Genuss, ihre Existenz, in der sie gesehen werden, suhlen sich in ihrem Privileg. Ich suhle mich mit. Mein Blick schweift über die ausgesaugte Orange und ich bin überwältigt von dem Wissen, dass sich hinter jedem dieser Fenster Geschichten abspielen. All die Tragödien, all diese Menschen, die in der Stadt verschwinden, in ihrer erbarmungslosen Anonymität und unaufhaltsamen Hektik untergehen, und doch ihr ganz eigener Mittelpunkt sind. Und sie alle sehen New York und dessen Facetten durch ihre eigenen Augen und machen sich ihr ganz individuelles Bild.
Während ich an meinem Drink nippe, der vermutlich so viel kostet wie mehrere warme Mahlzeiten in manch anderen Realitäten, beobachte ich, wie die Sonne allmählich verschwindet. Wie die Nacht sich über New York legt und die Dunkelheit alle Schicksale nach und nach verschluckt.
Und alles, was ich von hier oben noch sehen kann, ist das glitzernde, schillernde New York, das die Menschen so magisch anzieht und aussieht, wie von dem Cover eines Reisemagazins.
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