milchglas
Unter meinen nackten Füßen spüre ich die kalten weißen Küchenfliesen. Ich trage ein Nachthemd, es ist ganz leicht, der Stoff dünn, und es ist mir viel zu groß.
Nachthemden trage ich nur, wenn ich bei den Großeltern bin und nur, wenn es Oma's aussortierte Nachthemden sind. Oma sagt immer, ihre Küche sei zu klein. Für mich ist sie riesig. Das warme Licht, das von unter den Oberschränken kommt, gibt der Küche das Gefühl, dass es Nacht ist, aber eben noch nicht ganz. Das Kochen ist vorbei, deshalb ist das Deckenlicht aus. Aber eben nicht das warme Licht der Oberschränke. Das ist dafür da, damit sich niemand verläuft bei Nacht. Oder damit die Spülmaschine nicht im dunkeln arbeiten muss. Oder falls jemand noch einen heißen Kakao haben will - meistens bin ich das. Heißen Kakao gibt es bei Oma immer in großen, hohen Tassen mit Blümchen drauf. Das sind schicke Tassen. Mit ihnen und meinem Nachthemd fühlt es sich immer ein bisschen an, als wären wir eine schicke Familie in England. Für mich macht Oma außerdem Rosinen in den heißen Kakao in den schicken Tassen - wenn ich das will. Das ist eine Kreation von mir.
Gerade will ich keinen Kakao. Gerade bin ich beschäftigt mit dieser Aufregung, die ich manchmal habe. Wenn die Erwachsenen denken, ich schlafe schon, obwohl ich mich heimlich herunter schleiche.
Ich frage mich wie weit ich heute komme. Dabei habe ich eigentlich gar kein Ziel. Aber das kleine Herz schlägt mir in der Brust so schnell vor Aufregung, wenn ich versuche, gar keinen Mucks zu machen. Wenn ich, so leise, wie ich nur kann, barfuß die Holztreppe runter schleiche. Und dann über die kalten Fließen Richtung Wohnzimmertür. Jeder Schritt will gut überlegt sein und so dauert es eine halbe Ewigkeit. Und nach jedem Schritt muss ich kurz innehalten und die Balance halten, ganz still stehen. Kurz die Luft anhalten, um zu lauschen, ob sie mich gehört haben. Haben sie nicht. Ich höre weiter nur die Stimmen im Fernsehen, von langweiligen Erwachsenensendungen, in denen viele langweilige Erwachsene in dunklen Räumen auf großen Sesseln sitzen und über langweilige Erwachsenenthemen sprechen.
Mein Abenteuer ist viel spannender. Und jetzt wird es erst richtig knifflig. In der Tür zum Wohnzimmer ist eine Milchglasscheibe. Ganz langsam und ganz leise begebe ich mich in die Bauchlage und rutsche, Millimeter für Millimeter, an dem Holzrahmen vorbei. In der Hoffnung, dass mein Wuschelkopf nicht als Schatten durch die Scheibe sichtbar ist, wie ein albernes Schattenspiel. Und zwischendrin halte ich immer wieder an und das Herz klopft mir bis zum Hals, während ich lausche und hoffe, noch nicht aufgeflogen zu sein.
Und dann hab ich es schließlich geschafft.
Ich bin in der Küche, die Unterlichter tauchen mich in ihr gewohntes warmes Licht, die Fließen sind kalt unter meinen Füßen und die Spülmaschine summt ihr Lied. Ich atme erleichtert auf.
Und jetzt?
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